gabriela zumstein
mutmassungen ueber ein mittellaendisches bezirksspital

 

unter den trouvaillen, die sich auf dem estrich fanden, sind alte kranken- und operationsjournale.
zum beispiel das krankenjournal von 1906-1930: vermerkt sind darin name, beruf, buerger- und wohnort, geburtsdatum, eltern, zivilstand, ein- und austritt und wer fuer die kosten aufkam. ueber die krankheit ist nichts notiert. im schnitt wurden jaehrlich etwa 150 patienten eingewiesen, bei ca. 5000 verpflegungstagen. nach der spitalerweiterung 1922 verdoppelte sich die zahl.

die berufe im journal stammen wirklich aus einer anderen zeit. mit romantik hat das aber wenig zu tun: weber, sticker, spuhlerin, appreteur, faedlerin, ferger, nachstickerin, ausschneiderin, bleicher, ausruesterin, tagloehner, hausiererin, knecht, magd, erdarbeiter, steinbrecher, hafner, wagner, schuhmacher, korbmacher, handlanger, postcommis, fuhrmann, waescherin, ladentochter, brunnenmacher, pflaesterer, flaschner nebst fabrikarbeiterinnen, metzger, schreiner, schlosser, bauern, dachdecker ... das wort ferger ist im duden nicht mehr aufgefuehrt. ein appreteur ist ein gewebeveredler.
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am haeufigsten erkrankten die weber und weberinnen gefolgt von den appreteuren, maegden, knechten, tagloehnern, fabrikarbeiterinnen und -arbeitern und hausfrauen. auf einen kranken bauern kommen 10 kranke weber. das gibt anlass zu einigen mutmassungen.

etwa 60 prozent der ueber 25-jaehrigen waren ledig. ob sie zu arm waren, um eine familie zu gruenden, ob sie niemanden hatten, der sie pflegte oder ob, wie heute behauptet wird, verheiratete gesuender leben, ist nicht zu entschluesseln. auslaender gab es wenige. es gab die italiener, die waren steinbrecher, maurer, cement- oder erdarbeiter. ab 1917 fanden sich patienten, deren kosten vom deutschen reich getragen wurden. ob es kriegsverletzte waren ist nicht bekannt.

dass die patienten anderer gemeinden als auslaender galten ist nicht zu vermuten. fest steht, dass es immer wieder rechtsstreite gab, wer fuer die kosten aufzukommen habe und die mangelnde solidaritaet der gemeinden wurde beklagt. unter der rubrik «zahlung durch» sind zum beispiel 1906 selbstzahler, gemeinde, verband, rathaus, waisenhaus und armenpflege aufgefuehrt. manchmal steht auch ein fragezeichen. eine krankenversicherung gab es erst spaeter.
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in den unterlagen fand sich eine alte bueroordnung von 1871 zum thema krankheit: «jedes personalmitglied hat die pflicht, fuer die erhaltung seiner gesundheit sorge zu tragen, im krankheitsfalle wird die lohnzahlung eingestellt. es wird daher dringend empfohlen, dass jeder mann von seinem lohn eine huebsche summe fuer einen solchen fall wie auch fuer die alten tage beiseite legt, damit er bei arbeitsunvermoegen und bei abnehmender schaffenskraft nicht der allgemeinheit zur last faellt.»

ob man allgemein so dachte, ist nicht bekannt. bekannt ist, dass pfarrer hermann walter bion (trogen 1856 bis 1872) den armenverein trogen gruendete und bei der bezirksspitalgruendung beteiligt war. er setzte sich fuer die abschaffung der todesstrafe ein, nachdem er 1862 gegen seinen willen vor dem publikum einer hinrichtung die standrede halten musste. wer zur hinrichtung ging, um seine standrede zu hoeren, ist nicht bekannt.
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als geistiger gruender des bezirkspitals wird ulrich zellweger-rhyner genannt. «sozusagen nur mit seiner intelligenz und seiner energie ausgeruestet war der junge kaufmann in die fremde gezogen, um sein glueck zu versuchen. zuerst nach london und dann nach havanna. dort trat er in eine handelsfirma ein, deren associe er wurde und erwarb sich ein grosses vermoegen. die begegnung mit einer gruppe schrifteifriger christlicher maenner in nordamerika bahnte in ihm eine innere wandlung an», schrieb eugen steinmann.
womit ulrich zellweger-rhyner sein vermoegen verdiente und was seine innere wandlung beinhaltete, ist uns nicht bekannt. bekannt ist, dass er der gruender zahlreicher humanitaerer und sozialer werke war. sein portrait hing im aufenthaltsraum des krankenheims.

in den krankenjournalen stehen unzaehlige namen. einer von ihnen ist konrad hauser. wer er war, ist nicht mehr zu eruieren. sein geburtsdatum ist unbekannt und die berufsbezeichnung ist mit zoegling angegeben. er verstarb 16-jaehrig am 6. dezember 1918. das waisenhaus hat die kosten beglichen. das wort zoegling wird heute selten verwendet. ebenso wie findling, straefling, fremdling. die endung -ling kommt wohl von ziehen. ich wuesste gerne, in welchem zimmer konrad hauser starb. es konrad hauser-zimmer zu nennen waere angemessen. dass er nicht nach havanna ziehen konnte, um wie ulrich zellweger-rhyner sein glueck zu versuchen, stimmt traurig.
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